Ein Wiener Neubau.
Während der letzten zwei Dezennien hat sich Wien verjüngt. Die alte Vindobona hat die lästigen Fesseln gesprengt, die sie durch all die Jahrhunderte an der freien Entwickelung gehindert haben, in Folge eines kaiserlichen Wortes mit einem kräftigen Ruck gesprengt, und sie ist in der neu errungenen Freiheit schöner, jünger, imposanter geworden, als sie es Zeitlebens war. Eine reiche Bautätigkeit, die sich alsbald entfalten konnte, verkündete in steinernen Denkmalen den neuen Ruhm der sich verjüngenden Stadt. Keine zweite Stadt der Welt hatte während dieser Zeit eine reichere, und wir können auch sagen glücklichere und künstlerischere Bautätigkeit auszuweisen, als Wien. Die neuen Plätze Wiens bilden eine förmliche Musterkarte aller erdenklichen Schularten, jeder Geschmack findet seine Befriedigung. Die Bevölkerung nahm und nimmt den lebhaftesten Antheil an den glänzenden Neubauten, deren allmähliche Vollendung mit dem größten Interesse verfolgt wird. Jeder glänzende Neubau bildet so lange das Tagesgespräch, bis wieder ein neuer Prachtbau die allgemeine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nimmt. Gegenwärtig bildet das sogenannte Porzellan-Haus in der Kärntnerstraße den Gegenstand der Diskussion. Seinen Namen verdankt das Haus dem Umstand, dass in demselben das Porzellan-Waren-Lager der bekannten Firma Ernst Wahliß sich befindet, dann aber auch der Verwendung des Porzellans zur architektonischen Ausschmückung der Fassade, also einem Versuch, ein neues und dauerhaftes, sich bester als Terrakotten zur Polychromie eignendes 'Material in die Architektur einzuführen.
Wie bei jedem ersten Versuch, waren auch bei der Verwendung des Porzellans zu architektonischen Verzierungen enorme Schwierigkeiten zu überwinden, welche nur dank den rastlosen Bemühungen, und den unzähligen Versuchen des Fabrikanten Herrn Carl Knoll in Fischen, bei Karlsbad überwunden wurden.
Das Haus selbst, von dem Architekten Baurat Gustav Korompan erbaut, enthält in den Souterrains, in den Ebenerd- und Mezzanin Geschossen das Warenlager der genannten Firma, während die übrigen drei Geschosse zu Wohnräumen adaptiert sind.
Der Umstand, dass für die unteren, dem Warenhaus bestimmten Geschosse möglichst freie von Mauern nicht beengte Räume verlangt wurden, während die oberen Geschosse notgedrungen durch Mauern in Wohnräume abgeteilt werden mussten, machte dem Architekten die weiteste Anwendung der Eisenkonstruktionen zum einzigen Auskunftsmittel. Diese sehr Komplizierten Eisenkonstruktionen, sowie überhaupt die sämtlichen Schlosserarbeiten stammen aus dem bewährten Fabriksetablissement des Hofschlossers Albert Milde.
In Mitte des Warenhauses ist ein regelmäßiger, großer Hof, der in der Höhe des ersten Stockwerkes mit Glas gedeckt, ebenfalls als Verkaufslokal dient, von welchem eine Treppenanlage an der die Eingänge gegenüberstehenden Seite sowohl in dem Souterrain als auch in dem Mezzanin führt. Dieser Hof mit seinen ihn umgebenden Galerien im Parterre und im Mezzanin, mit seinen reichen, geschmacksvoll ausgestellten Waren in allen Genres des Porzellans, Fayence, Mayolica und der gesamten Tonwaren-Industrie, verdient eine Sehenswürdigkeit Wiens genannt zu werden. Alle erdenklichen Formen und alle erdenklichen Marken sind vertreten, von den einfachsten, billigsten Gefäßen bis zu den prunkvollsten Erzeugnissen der berühmten Meißner Porzellanfabrik. Es ist eine wahre Weltausstellung auf den Gebieten der Porzellan Industrie, welche dem Auge des Liebhabers ein unerschöpflich reiches Material von stets wechselnden, Interesse darbietet. Instruktiv ist ein Besuch dieser Ausstellung auch für Nichtkenner, die sich hier bei etwas Aufmerksamkeit sehr wohl eine Kennerschaft erwerben können. Wer kann heute sagen, dass die Porzellan-Industrie für ihn ohne Interesse sei. Jede Häuslichkeit wird heutzutage belebt und verschönt durch die Erzeugnisse dieser merkwürdigen Industrie, die sich ja nunmehr eine wahre Weltherrschaft erobert hat.
Wir können unsere Leser zum Besuche dieses wahrhaft einzigen Etablissements umso beruhigter einladen, als wir uns selbst überzeugt haben, dass, entgegen der gebräuchlichen Anschauung alle zum Verkaufe gebotenen Waren nicht nur gut sind, sondern auch zu den billigsten Preisen verkauft werden. Das Etablissement ist seit seiner Eröffnung durch den Besuch der Königin von Sachsen und des Kaisers von Österreich ausgezeichnet worden. (2)